Die Liebe der Partikel. Oder: Der Deltaherbst

Von Holger Schulze

Geschrieben habe ich schon lange. Lange vor dem Schreiben von Vorträgen oder Artikeln. Lange vor dem sogenannten Schreiben im Netz. Kleine Wort- und Halbsatzcollagen als Teenager, empfindsame Wortfolgen zu Kunstwerken und Lebensmomenten wies Usus ist in der Adoleszenz. Es folgten skurril kombinatorisch aufgebaute Sprech- und Theatertexte. Ab 1992 begann ich jährlich einen Text in der Abfolge der Monate, Wochen und Jahre entstehen zu lassen. Erst waren es wenige Seiten, dann dutzende, schließlich entstanden pro Tag seitenweise Collage- und Kombinatoriktexte. Sie griffen die Schlagworte und -marken und -neologismen, die Figurennamen und Spielorte des Tages auf und erzählten sie ganz anders. Ich mag immer noch "Squarepusher Walter Jens The Saint" von 1997. Die Laurent-Desiré-Kabila-Halle in Kinshasa, Kongo, im Hauptgebäude der nationalen Akademie der Künste spielt darin eine zentrale Rolle.

Nach meinem ersten Buch, meiner Promotion, "Das aleatorische Spiel", hörte ich damit auf. Viele hunderte, vermutlich sogar ein paar tausend Seiten lagern seither in einer Umzugskiste im Keller. Das Schreiben fing danach aber erst an: ein Schreiben für und mit anderen, ausgerichtet an Plattformen und Leserschaften, die Suche nach Aussageabsichten und Bauformen, Bezügen zu bestehenden Positionen, Genres, Debatten, Fragestellungen. Weblogs entdeckte ich en passant, ich erinnere mich kaum mehr, wer mich darauf brachte. Vermutlich lud ich mir regelmäßig die Seiten von Jörg Kantel a.k.a. "Schockwellenreiter" oder Peter Praschl und Stefan Knecht unter "Le SOFA Blogger" und vor allem auch Stephan Herzcegs "Malorama" und las und las und begann zu kommentieren. Etwas davon findet sich in einem Artikel, den ich 2003 dann "'Mein tägliches Textgebet.' Heuristiken täglicher Texte im Netz" nannte und der in einer der üblichen Artikelrepositorien auch heuer noch zu finden ist.

Aus dem Kommentieren entstand dann Autorschaft: fast ein Schulbeispiel dafür, wie Schreibpraxis sich aus Lesegewohnheit erhebt. Die unterschiedlichen Plattformen waren mir erst einmal egal, ob sie nun editthispage, RadioUserland oder Antville hießen. Der eine fährt halt gern im Kombi, der andere macht seinen Kaffee lieber mit der Bialetti. Aufgrund einer Designlaune setzte ich mein erstes Blog dann bei editthispage auf und kommentierte aber natürlich weiterhin überall, probierte weiterhin alles aus und nutzte dort auch den Namen, den ich vermutlich auch auf Antville wiederholt genutzt hatte: mediumflow.

Ich erinnere mich heute kaum noch mehr, warum ich diesen Namen gewählt hatte. Die Nutzernamenwahl ist gleichermaßen lästig wie lustvoll, eine Routineaufgabe. Doch erinnere ich mich nun, dass ich in den 1990ern eine Reihe von Jahrestextkollektionen für mich schrieb, die ich damals in medium flow genannt hatte. Ich glitt darin dann durch die Medien, ihre Texte – wollte dafür Sorge tragen, dass dieser Flow sich beim Lesen ebenfalls einstellte, in einer schwebenden Mediation. Drei oder vier Deutungswege waren mir wohl wichtig. Die mussten aber alle nicht zusammenpassen, nichts daran musste konsistent sein, dennoch war es eins: nämlich meins. Solch gelassene Spielfreude mit Inkonsistenz erkennte ich wieder und liebte ich in den Blogs, die ich las, in den dutzenden aleatorischen Texten, die ich für mein Buch untersucht hatte, in den hunderten Seiten von Schreibtexten, die ich etwa zehn Jahre lang zuvor produziert hatte.

Es ging um Kohäsion, um Swing und Flow, eine Responsivität und Geschmeidigkeit des Textspiels in den Blogs und Kommentarkaskaden. Das ist auch heute, was mir in gelungenen Momenten auf Twitter oder Facebook, Instagram, TikTok oder sonstwo sehr gefällt: wenn der Dialog oder Polylog perlt. Wenn nicht Kombattanten aufeinander prügeln, sondern Kommersanten einander umtänzeln und verwirren, beflirten oder erkiesen, in unerwartete Spielsituationen ziehen und überraschend anders reagieren, aufgreifend, weiterschweifend, abseifend und wegpfeifend. Es ist Textimprovisation (auch Bildimprovisation, Videoimprovisation). Sie ist immer Vollkontaktimprovisation: ein exzessiv verspieltes, hochdynamisches, vor allem transformatives Adventure (für mich: in Text).

Die Spiellust in Text führte mich eh zu Autoren wie Ferdinand Kriwet oder Jürg Laederach oder Elfriede Jelinek oder eben Kodwo Eshun. Sie führte mich auch zum Begriff der "Ubiquitären Literatur": zu den herumwirbelnden und vorbeizischenden Partikeln, die zeitweise einen Text ergeben können und dann wieder auseinanderstieben. Das ist die Literatur, die ich nach wie vor am liebsten lese. Gleichviel, ob sie mir nun leinengebunden, auf Zeitungspapier, als Serie von Blogposts oder Updates, Samisdatveröffentlichungen oder Wandmalereien präsentiert wird. Es ist die Liebe der Partikel, die flirren und stieben, sich ballen und wegstreuseln voneinander; die hier und da mal einen Text ergeben – oder eben auch nicht. Warum auch nicht? Bin ich? Schon am Limit?

Der Deltaherbst

Kranenburg, London, Stanford, Klagenfurt.
Flamingos, Hunde, Familienprobleme:

„Der Summer-Breeze-Look fühlt sich nicht nur nach Sommer an – er sieht auch so aus!“

Ich schaue entsetzt über das Buffet. Zwischen halb sieben und halb acht heute morgen grölte drei Häuser weiter ein Nachbar in einer hellen Stimmlage und exaltierten Überdrehtheit zwischen Supergrobi & Roberto Benigni.

Sie haben Roland Barthes erwähnt.
Ich habe Aby Warburg erwähnt.


(dann kam der Lockdown; dann kam der Lockdown; dann kam der Lockdown...)

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