Graffiti ohne Namen

Von Goncourt

Nach dem Abitur fuhr ich nach Venedig. Meine erste Reise allein; meine Sprachkenntnis war, trotz Familie, sehr lückenhaft. Ich hatte vor, Pasolini zu übertragen und begann eine Reihe von Texten, die ich immer wieder verbessern würde, ohne dass sie zum Ende kamen. Ich glaube, noch zehn Jahre später hatte ich einige von ihnen immer mal wieder angefasst und wieder liegengelassen.

In Venedig hatte ich ein einfaches Graffito fotografiert: unauffällig, fast formlos, kaum definiert. Ich wusste noch nicht, dass es von Harald Nägeli stammte, obwohl er mir schon ein Begriff war — es hatten Schüler meiner Schule wegen Graffiti vor Gericht gestanden, in dem Stil, in dem man sie damals entlang der Bahnstrecken des Ruhrgebiets sehen konnte (simple style, es gab damals bekannte Namen wie Rio oder Elz) — Nägeli hatte sich aus der Schweiz gemeldet und für die Schüler eingesetzt.

Der Schriftzug war auf dieser Mauer und veränderte sie, aber er war kein «Werk», keine «Arbeit», er hätte gut als irgendein Gespraye übersehen werden können. Graffiti sind die Fortschrift eines formlosen Textes, an dem viele schreiben, die Graffiti der 80er kamen auf damit, den eigenen, selbstgewählten Namen auf einer U-Bahn oder einem Zug durch die Stadt fahren zu lassen. Die Figur von Nägeli hatte nicht mal die Kontur eines Namens:

Die Figur hatte etwas Genaues, aber sie gab keinen Anhaltspunkt, woher diese Genauigkeit stammte.

Als ich etwa 2003 das erste Mal Blogs wahrnahm, hatte ich schon mit HTML gespielt und eine Art «Tagebuch» in ein Frameset hardcodiert — mit Flashvideos, animated Gifs und Javascript, für die XHTML-Avantgarde absolutes No-go. Die Seiten hatte ich während meiner Nachtschichten in einem Seniorenheim zusammengebaut, dabei noch Javascript-Spiele für die Kollegen programmiert mit den Fragen unserer dementen Bewohner als Rätsel. Eine Frau, deren Zimmer direkt neben mir war, verewigte ich in einem Flashvideo meiner Website — das war alles vollkommen durchlässig: Arbeit, Internet, die Brüder Goncourt, ihr Butler.

Lustigerweise hörte ich das erste Mal von Blogs in einem Artikel der «Wirtschaftswoche», die im Seniorenheim auslag (don't ask me, der Matador hatte da auch schon mal gelegen), so stieß ich auf den Schockwellenreiter — vereinzelt auch wegen irgendwelcher Googeleien — Ronsens wegen Labyrinthen, Hammerschmitt wegen der Walser-Rede. Blogs waren völlig konturlos, das fing schon mit der Software an — umständliche PHP-Gespinste oder dieses Monstrum Wordpress in seiner Anfangszeit. Der Schockwellenreiter hatte Streit mit Leuten auf Antville, also begann ich Antville mitzulesen, neben den Nicht-Antvilles Funktionale Gruppe, Malorama, Gesprächsfetzen, Erratika, Katatonik, Woerterberg, truffle — übergangslos auch Lumma, Vowe, ITW, Don Alphonso, das hatte sich noch nicht in Sparten sortiert. Kutter, Elektrosmog, Funkenfeuer, Av.ant, F.ant, Sofa. Lesen wie im Reader's Digest: Wenn Du einen Artikel über Braunbären in Kanada liest, und daneben steht ein Artikel über Autos, dann liest Du auch den Artikel über Autos, selbst wenn Du keinen Führerschein hast.

Antville hatte dieses Durcheinander mitgetragen und selbst miterzeugt: Commentsdump, robot, Trunken undb genau, Biberblog. Aus rätselhaften Reserven hatten die, die anders als ich noch Blogs bei Antville herumliegen hatten, für jedes special interest sofort ein abwegiges, oft sehr verspieltes Gemeinschaftsblog parat. Als ich später selbst zu einem Antville-Blog kam, war es eher schon zu spät: zwei, drei Blogs nebeneinander ging nicht mehr, auch deshalb, weil das Lesen von Blogs sich weitgehend aufgelöst hatte: Das Publikum, das sich über mehrere Blogs hinweg Bälle «über Bande» (Bov Bjerg) zuwarfen, bestand in dieser Form nicht mehr. Es hatte Tage auf Arbeit gegeben, in denen ich Alzheimerpatienten daran hindern musste, kleiderfrei auf die Straße zu laufen, während ich zwischendurch trotzdem im Stakkato Schantal-Konopaschke-Comments mitpostete. (Beim damaligen Arbeitgeber können Sie mich jetzt nicht mehr verpetzen.)

Die Möglichkeit, am Text der Vielen mitzuschreiben, ohne auf Anfang, Climax, Ende achten zu müssen, mit dem Namen experimentieren, den man irgendwo als Artikel oder Signatur hinsetzt, mit Figuren — oder grundsätzlich: einen Text nicht «anfangen» müssen, ihn auch nicht «beenden» müssen, weil ihn andere begonnen haben und andere weiterschreiben; auf Komposition und Raffinesse verzichten zu können, den Katalogen davon, was ein guter Text ist, zuwiderlaufen, nicht mit «Werken» herumzufuchteln, die in Jury-Diskussionen auf «Glaubwürdigkeit» und Textstrategie beurteilt werden.

Die «Klowand»-Diskussion hat mich nicht gestört: «Geschmiere» ist Camouflage, Diskretion. Dass es gerade auf Antville Blogs gab, die fast weiß waren, alle paar DIVs weiter zwei, drei Wörter und dazu irgendwer, der die Wörter kommentiert: Genauigkeit, die eine des Sounds ist: Wenn ich mit Blogger*Innen «in echt» zusammengekommen war, konnte das Gespräch nahtlos anknüpfen.

Nachgetragene Liebe. Und herzlichen Dank an die Antville-Entwickler: Ihr habt das Komplizierte leicht gemacht.

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